Die Freude an alten Freundschaften
Man sagt, man soll so schreiben, als wären die Menschen, die einem nahe stehen, bereits tot. Ich werde jenes versuchen zu tun. Die von diesem Text Betroffenen werden es mir verzeihen. Oder wird sich Aristoteles doch im Grab umdrehen?
Wir gehen durchs Leben und treffen abertausende Menschen. Mit einigen von ihnen interagieren wir für eine Weile, aber dann verlassen sie unser Leben wieder und sind in unseren Köpfen nicht länger existent. Getreu dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn. Dann wiederum wird der ein oder andere von ihnen hin und wieder von uns liebevoll erinnert (oder eben nicht liebevoll, abhängig von der Erinnerung natürlich). Und dann gibt es diese Menschen, deren Wege sich mit unseren kreuzen, die uns weiterhin begleiten. Manche von ihnen gesellen sich im Laufe der Zeit zu uns, andere liefen ziemlich von Anfang an diesen Weg mit uns. Letztere sind diejenigen, die unseren ganzen Weg kennen. Sie wissen über die Blumen, die wir gepflückt haben, und die Steine, die wir aus dem Weg geräumt haben. Genauso wie wir über ihre Blumen und Steine wissen.
Ich habe zwei Freundinnen. Beide kenne ich seit einer halben Ewigkeit.
Die eine lernte ich bereits im Kindergarten kennen. Zu Fasching trugen wir die gleichen Kostüme. So waren wir Schneeweißchen und Rosenrot, zwei verdattert dreinblickende Clowns oder zwei komplett unterschiedliche (aber gleichsam bescheuert) aussehende Pippi Langstrümpfe. Wir entwendeten einem Jungen Salzbrezeln, die er nicht teilen wollte, obwohl er viel zu viele davon hatte und wir hatten außerdem in unserem katholischen Kindergarten das Prinzip „Was man hat, soll man teilen“ gelernt hatten. Ich nenne das noch heute ausgleichende Gerechtigkeit. Meine Freundin wiederum kann sich nicht mehr daran erinnern.
Die andere lernte ich erst auf dem Gymnasium kennen. Zu einer Zeit, zu der man sich nicht mehr in gleiche Kostüme zur Faschingszeit schmiss – leider! Trotz dieser fehlenden, einschlägigen Erfahrung (auf die ich vergebens hoffe, dass sie irgendwann nachgeholt wird) sind wir dennoch Freunde geworden. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob wir gemeinsam in Sachen der ausgleichenden Gerechtigkeit unterwegs waren. Sie wird es tun und jenes mir wiederum vorwerfen vergessen zu haben.
Wir tranken gemeinsam zu viel Äppler, lachten kindisch über Dinge, die nicht lustig waren, konkurrierten ab und an um Noten, würdigten uns zeitweise keines Blickes, waren oftmals einfach nur seltsam und fanden hin und wieder die jeweils andere seltsam. Wir blieben uns dennoch treu – bis heute.
Was uns drei miteinander verbindet, abgesehen von den vielen Erinnerungen (oder eben Nicht- Erinnerungen) und der Zeit, die wir miteinander teilen, ist fraglich. Bis auf die Tatsache, dass wir einige Jahre gemeinsam die Schulbank drückten, verbindet uns objektiv betrachtet – NICHTS. Naja, nicht NICHTS, aber auch nicht sonderlich viel. Unsere Interessen sind unterschiedlich, unsere Lebensstile, unsere Ziele, unsere Lebenswege, unser Naturell. Wir ärgern uns auch oft genug über die anderen. Es gab Zeiten wo wir einander Fremde waren. Dennoch wir sind Freunde.
Wie zum Teufel konnte uns das nur passieren? Was für eine Art Freundschaft ist das, die wir miteinander führen? Besteht sie aus Verpflichtung gegenüber der gemeinsamen Erinnerung, sogar einfach nur aus Gewohnheit, aus einem Nutzen, die die jeweils anderen für einen erfüllen, oder schlichtweg aus einem angenehmen Gefühl?
Gut, dass es einen alten, griechischen Kerl gab, der schon über Jahrhunderte hinweg, den Menschen (wenn wir ehrlich sind, oftmals vergebens) die Welt versuchte zu erklären. Die Vergeblichkeit mag in seiner Wortwahl liegen, die es einem wirklich nicht einfach macht, das Gesagte zu verstehen und gelangweilt vorblättern lässt (wenn man überhaupt seine tausenden
von Seiten, die er uns hinterlassen hat, zur Hand nehmen mag). Zudem haben alte Schreibende die Eigenschaft, besonders wenn sie sich als Philosophen beschreiben, ihre Meinung über abermals viele Seiten zur Show zu stellen. Sehr zur Unfreude des Lesers, der mittlerweile ja an bewegte Bilder gewöhnt ist. Wen interessiert es auch, was ein toter Sack im zeitlich und geografisch weit entfernten antiken Griechenland zu sagen hatte? Wer weiß, vielleicht kann er uns dennoch auf die Sprünge helfen, dieser Mann namens Aristoteles, der nach über 2000 Jahren immer noch weltberühmt ist?
Kommen wir zu diesem alten, toten Kerl. Für Aristoteles ist Freundschaft „gewissermaßen eine Tugend, oder doch mit Tugend eng verbunden“ und ein „notwendiges Bedürfnis für das menschliche Leben“ (271). So stimmen wir doch mit ihm überein, dass die Vorstellung, ein Leben ohne Freunde zu führen, etwas Tristes ist, oder? Freunde, so Aristoteles, sind dafür da, uns vor Fehltritten zu bewahren, wenn wir jung sind und „eine Unterstützung, während sie uns in der Blüte unserer Kraft Helfer zu schönen Taten sind“ (272). Das ist ja alles schön und gut, aber was ist das nun für eine Art Freundschaft die wir miteinander führen? In der Aristotilianischen Sprache der Freundschaft gibt es nämlich drei Arten der Freundschaft.
Die erste Art der Freundschaft basiert auf dem Nützlichen. Aristoteles schreibt: „Die also, welche sich um des Nützlichen willen lieben, lieben nicht Einer des Anderen Person an sich, sondern insofern ihnen von einander etwas Gutes zu Teil wird.“ (277). Folglich das Abschreiben der Hausarbeiten, das Austauschen von Notizen, das Spicken lassen in Klassenarbeiten, die gegenseitige Gesellschaft, um nicht alleine als seltsam abgestempelt zu werden, das Zahlen des Äpplers (und in diesem Sinne das Nicht-Zurück-Verlangen des geliehenen Geldes), der freigehaltene Platz im Bus, das Gesellschaft leisten in Pausen, das gemeinsame Hinterherrennen beim Dauerlauf.
Dass unsere Freundschaft einen Nutzen hatte während der Schulzeit, ist offensichtlich. Zu größten Teilen bestand jene Freundschaft zu diesen Zeiten aus Nutzen, weil uns von einander etwas Gutes zu Teil wurde (entsprechend der Situation: das Sternchen für die gemachte Hausarbeit, die gute Note, bessere Laune, Trunkenheit, ein Sitzplatz, Gesellschaft – besonders beim Dauerlauf). Aktivitäten, die seit der Schule nicht mehr Teil unserer Freundschaft sind (Bis auf den Dauerlauf. Den machen wir immer noch. Nur jede alleine. Ist auch besser so.)
Könnte es sogar sein, dass das Angenehme Grund unserer Freundschaft ist? Die zweite Art der Freundschaft beschreibt Aristoteles nämlich wie folgt: „Ebenso die, bei denen das Angenehme der Grund der Neigung ist; denn solche lieben die „angenehmen Gesellschaften“ nicht darum, weil dieselben diese oder jene sittlichen Eigenschaften haben, sondern weil sie ihnen Vergnügen gewähren“ (277). Wir bereiten uns also Vergnügen! Aha! Naja, das mag auch am Äppler liegen! Oder anders formuliert, der Grund bestehe also in dem für uns Angenehmen. Das gemeinsame Äppler trinken ist in der Tat etwas angenehmes.
Aristoteles weist seine Leser darauf hin, dass sowohl Freundschaften, deren Grund das Nützliche, als auch jene, deren Grund das Angenehme ist, „Freundschaften nach äußerlich zufälliger Beziehung“ seien, „denn nicht der Mensch als das, was er ist, wird geliebt, sondern solche Menschen lieben sich nur, sofern einer dem anderen etwas leistet, hier etwas Nützliches, dort ein Vergnügen. Solcherart Freundschaften sind somit leicht auflösbar, sobald die Menschen selbst (…) nicht mehr angenehm oder nützlich sind“ (277). Folglich, wenn der Grund (das gemeinsame Äppler trinken oder das Hinterherrennen beim Dauerlauf) wegfällt, so hört laut Aristoteles auch die Freundschaft auf (278). Blöd, dass wir auch, wenn wir keinen Äppler trinken (was wir, um das neben bei mal erwähnt zu haben, seit Jahren natürlich nicht mehr im Übermaß gemacht haben. Wir wählen nun viel zivilisierter Wein!) und nur über unsere Dauerlauferfolge (die bei der Mehrzahl der Beteiligten immer noch eher mäßig sind) reden, weiterhin unsere Freundschaft bestand hat. Und nun?
Glücklicherweise weiß Aristoteles von einer dritten Art der Freundschaft. Gespannt? Ich auch! Nicht, dass Aristoteles uns noch einmal auf die falsche Fährte lockt.
Die dritte Art der Freundschaft ist die, „welche ihren Freunden das Gute um ihrer (der Freunde) willen wünschen, sind vorzugsweise Freunde, denn ihr Verhältnis gründet sich auf ihre Beschaffenheit an sich und nicht auf irgendwelche Zufälligkeiten. Die Dauer ihrer Freundschaft währt daher auch so lange, als sie selbst gut sind – und die Tugend ist etwas Dauerhaftes.“ (279). Also, es sind nicht die Gründe des Nützlichen (das Abschreiben der nicht-gemachten Hausaufgaben, der Sitzplatz im Bus) oder des Angenehmen (das Trinken des Äpplers), sondern das Gute, das man dem Freund um seinetwillen wünscht, und nicht nur, weil es für einen selbst nützlich oder angenehm sein könnte.
Na dann, Prost, Mädels, auf die Freude unserer alten Freundschaft, auf Aristoteles – auf dass wir gut bleiben für einander!