Die Sache mit der Liebe
Oder was Jeremy Bentham dazu zu sagen hat
In meinem letzten Kapitel habe ich dir von dem Bananen-Dilemma erzählt. Hier möchte ich heute wieder anknüpfen:
Gehen wir die ganze Angelegenheit realistischer an: Bevor wir mit Kant unsere Bananen wieder los werden können, müssen wir schließlich erstmal die besagten Bananen treffen, nicht wahr? Seien wir optimistisch und wir treffen eine. Entweder durch die vielen digitalen Pools von Datingwilligen oder ganz altmodisch durch die Irrungen und Wirrungen unseres realen Lebens wird uns eine Banane präsentiert.
STOOOP! Wir sind ja optimistisch. Wir wissen ja noch nicht, ob das zukünftige Objekte der Begierde eine Banane ist. Soweit sind wir ja noch gar nicht. Wir müssen ja erstmal die potentielle Nicht-Banane näher kennenlernen, um zu entscheiden, ob sie eine Banane oder eine Nicht-Banane ist.
Kant spielt weiterhin leise Melodien auf seinem Banjo. (Seine Trompete steht verpackt in der Ecke). Schließlich haben wir ja von ihm gelernt, dass wir die Person als den oder die zu sehen haben, der oder die sie ist. Zudem sollten wir keine voreiligen Rückschlüsse ziehen, was sie für uns darstellen könnte. Sprich, die Frage „Banane oder nicht Banane?“ ist zu diesem Zeitpunkt nicht zu stellen.
Nun müssen wir das Subjekt des Interesses näher kennenlernen, um dieses Subjekt – Kants freudiges Banjospiel im Hintergrund anerkennend – als Zweck zu behandeln, als Mensch wahrzunehmen, und nicht als Mittel, uns von – um es mit den Worten Alain de Bottons zu sagen – unserer Isolation in einer kalten und anonymen Welt zu befreien (De Botton, 15).
Wäre das mal alles so einfach mit dem Behandeln als Zweck! Die Sache ist gemäß der Evolutionsbiologie nämlich die (und Herr De Botton ist da schlauer als ich): Wir empfinden das als sexy, was eine Reflexion von etwas ist, das unsere Spezies erhält. Wir sind von Intelligenz angezogen, weil es eine Indikator für eine wichtige Qualität ist, um das Überleben unserer Jungen sicherzustellen. Wir mögen es, Menschen zu sehen, die gut tanzen, weil dieses ein Indikator für Lebenskraft ist. Und die ist wichtig, um unsere nächste Generation zu beschützen. Was die Gesellschaft als attraktiv bezeichnet, ist letztendlich jemand, der gut darin ist, Infektionen zu bekämpfen und ohne Komplikationen in den Wehen liegen kann. So sei die Freude daran, jemanden zum Essen einzuladen und zu einem späteren Zeitpunkt deren Hosen aufzuknöpfen, nicht nur begründet in der Stimulation von Nervenenden und der Befriedigung unseres biologischen Verlangens, sondern auch von der Freude, die in uns aufsteigt, jedoch kurz, uns von dieser Isolation in einer kalten und anonymen Welt zu befreien (De Botton, 13, 14, 15).
Obwohl anscheinend evolutionsbiologisch die Motive hinter unserem Drang nach potentiellen Nicht-Bananen eher in dem Mittel begründet sind, unsere Spezies zu erhalten, unsere Nervenenden zu stimulieren, unser
ebiologisches Verlangen zu befriedigen oder uns aus dieser Isolation zu befreien, hat Kant uns dennoch auferlegt, die potentiellen Nicht-Bananen als Zweck an sich wahrzunehmen. Ein Zweck, der eben nicht in der von unseren Hormonen vorgeheuchelten Leidenschaften, Hingaben, romantischen Emotionen, Attraktionen zu finden ist, sondern nur in der Geschichte und im Charakter der Person selbst. Puh! Nicht nur du kommst da ins Schwitzen.Kommen wir zurück zur eigentlichen Angelegenheit: Nas Näher-Kennenlernen der potentiellen Nicht-Banane. Glücklicherweise kann nicht nur Kant uns unser Dating-Leben erschweren, sondern auch andere Philosophen haben großes Interesse daran, uns alle zu besseren Bananen zu machen. Geben wir Jeremy Bentham diesmal eine Chance!
Für Bentham gilt das Prinzip des größten Glücks. Um eine Handlung zu bewerten, sind die Freude oder das Leid aller Personen zu evaluieren, deren Interesse anscheinend von der Handlung betroffen ist. Die Bilanz dessen zeigt dann auf, ob eine Handlung eine gute Tendenz hat oder eben nicht.
Stellen wir uns folgende kleine Szenerie vor:
Mädchen trifft Junge. Junge trifft Mädchen. Sie möchten zusammen was trinken gehen. Das freudige Banjospiel Kants auf der Bühne inspiriert beide zu sagen, dass sie sich besser kennenlernen wollen, indem sie sich ihre Geschichten erzählen. Kant spielt immer euphorischer auf seinem Banjo. Vollends begeistert spielt er, als er erfährt, dass beide sich vornehmen, die potentielle Nicht-Bananen-Frage auszuklammern. (Obwohl es immer eine Bananen-Frage sein wird, denn auch unsere Protagonisten kommen leider nicht aus ihren evolutionsbiologischen Rollen heraus und wollen langfristig ihre Nervenenden stimulieren, ihr biologisches Verlangen befrieden – und sich, auch wenn nur kurz, aus ihrer Isolation befreien. Das Kennenlernen dient daher letztendlich – trotz aller noblen und vernünftigen Vorsätze – zum Mittel, sich gegenseitig die Hosen aufzuknöpfen. Aber das müssen wir Kant nicht sagen. Den beiden Protagonisten auch nicht. Also: Pssst!).
Für Kant ist die Sache hier ganz klar und fürs erste abgesegnet. Er spielt weiter ruhig auf seinem Banjo.
Da betritt Jeremy die Bühne, baut sein Schlagzeug auf, nimmt seine Sticks in die Hand und fängt leise an zu spielen.
„Das ist doch eine ganz einfache Angelegenheit, Mr. Bentham! Es bringt den beiden Glück!“, rufst du ihm zu.
„Halt mal“, sagt Bentham und unterbricht sein Spiel. „Mag sein, dass in erster Linie die Handlung den beiden Freude bringt. In zweiter Linie wird das ganze schon komplizierter – auf Grund der Potentialität des Bananen-Seins beispielsweise. Zudem weißt du ja nicht, ob das gemeinsame Trinken von – sagen wir – Glühwein, beiden ausschließlich Freude macht. Es kann ihnen auch Leid zu fügen in der einen oder anderen Weise. Es braucht nur einer von den beiden keinen Glühwein zu vertragen! Hast du darüber schon mal nachgedacht? Darüber hinaus sind nicht nur die Interessen der beiden von dieser Handlung betroffen, sondern auch die Interessen anderer Personen.“
„Wer sollte davon noch betroffen sein, wenn die beiden einen Glühwein trinken? Es ist doch nur Glühwein!“, fragst du erstaunt.
„Naja“, spricht Bentham weiter mit tiefer Stimme, „da fallen mir so einige ein. Die Personen, die auch mit dem Mädchen oder dem Jungen was trinken wollen. Mag sein, dass der Verzicht auf die jeweilige Person sie traurig stimmt. Natürlich könnte sie das auch freuen. Da müssten wir zunächst die einzelnen Personen fragen. Entsprechend der Anzahl der konkreten Personen könnte dies entsprechend lange dauern. Die Personen, die gerne an Stelle von dem Mädchen oder Jungen wären. Die sind sicherlich auch traurig darüber, dass man nicht mit ihnen Glühwein trinken will. Die Personen, die an dem Verkauf des Getränks beteiligt sind. Die haben Freude an den Einnahmen. Umso mehr Freude, je mehr die beiden trinken. Die Personen, die in liebevoller Nähe zu unseren Protagonisten stehen, die in erster Linie zu dem Zeitpunkt des Treffens Junge oder Mädchen nicht erreichen können mit ihren Anliegen, die nach dem Treffen, und somit in zweiter Linie, von der Stimmung unserer Protagonisten betroffen sind – nachdem sie endlich zurückrufen. Und so weiter, und so weiter… entsprechend wie eben die genaue Situation ist.“
Kant spielt weiterhin leise auf seinem Banjo in der hintersten Ecke der Bühne. Bentham schaut ihn an.
„Nicht zu vergessen“, führt Bentham seinen Monolog fort, „unseren lieben Freund Immanuel. Wenn am Ende des Abends die beiden sich doch gegenseitig die Hose aufknöpfen, würde das ihm hier nämlich ziemlich viel Leid zufügen.“
Kant schaut auf und nickt Bentham zu. Bentham nimmt seine Sticks.
„Moment!“, sagst du vehement. „So knüpft mir ja nie mehr jemand die Hose auf.“, fährst du entsetzt fort. „Erst sagt Immanuel mir, dass ich die potentiellen Nicht-Bananen nicht mehr als Mittel sehen darf, um meine nun mal vorhandenen Bedürfnisse zu stillen, sondern jetzt erzählst du mir, Jeremy, bevor ich überhaupt ansatzweise einem Hosenbund nahe komme, das ich Interessen von anderen evaluieren soll?“
Jeremy schmunzelt. Dreht sich zu seinem Schlagzeug um. Setzt an, hält inne.
„Unter uns“, flüstert er dir zu, „mir ist das ja egal, ob man dir am Ende des Abends die Hose aufknöpft.“ Lachend sagt er: „Solange es das größte Glück aller ist.“
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Auch wenn wir rational unser Dating-Leben angehen, mit Immanuel unsere Bananen des Lebens – ohne sie als Mittel zu einem Zweck zu behandeln – wieder loswerden, mit Jeremy evaluiert haben, ob es das größte Glück der größten Zahl ist, der potentiellen Nicht-Banane die Hosen aufzuknöpfen, begegnen wir dennoch ab und an einem Paradoxon. So werden nämlich manchmal Nicht-Bananen von uns zu Bananen konstruiert. Irrsinnig, oder?
Diese anscheinende Widersprüchlichkeit kann verschiedene Gründe haben. So mag es vorkommen, dass wir behaupten, eine Nicht-Banane sei eine Banane, weil wir Angst davor haben, für diese wundersame Nicht-Banane eine Banane zu sein. Kompliziert, was? Bevor er/sie uns „Banane“ nennt, mit Kant uns wieder los wird, ist es doch weitaus schmerzfreier ihn/sie als Banane zu konstruieren. Schließlich haben wir Erfahrung damit, was eine Banane für uns ausmacht. Und schließlich sind wir alle Meister darin, Anhaltspunkte zu finden, genau jene Nicht-Banane zu einer Banane zu machen. Du brauchst gerade nicht den Kopf zu schütteln. Wir alle haben diesen paradoxen Tanz bereits aufgeführt. Abstreiten hilft da nicht!
Die Vertrautheit unserer Isolation in dieser kalten und anonymen Welt ist uns in diesen Momenten lieber als die Scham, die uns heimsucht, wenn uns mitgeteilt wird, dass es eben nicht das größte Glück der größten Zahl ist, unsere Hosen aufzuknöpfen oder wir sogar mit den Worten abserviert werden: „Schätzelein, du bist eine Banane für mich. Ich hasse es Bananen zu essen. Geh‘ und finde dir eine andere Banane!“.
Dann ist da noch eine andere Sache, die uns zu schaffen macht: In unserer Isolation haben wir uns ein geheimes Königreich geschaffen. Wir haben feinsäuberlich unsere Schlösser erbaut, sie liebevoll eingerichtet, kontinuierlich sind wir am Aufräumen und Restaurieren, wir gestalten täglich in ihnen Details, die nur wir kennen. In diesem Königreich herrschen wir. Wir können uns auf unseren Thron zurückziehen, wenn die Welt da draußen uns zu Dienern macht, uns versklavt oder als Narren sieht. Dieses Königreich zu teilen? Die Gefahr hinnehmen, dass unsere Nicht-Banane unser wundersames Königreich wieder verlässt? Lieber hüten wir unser beschütztes Königreich als Geheimnis in der Hoffnung, dass niemand jemals davon wissen wird. Erwischt?
Wir riskieren so nicht, jemanden in unser Königreich zu lassen. Wir riskieren so auch nicht, dass jemand unserer wunderbares Königreich wieder verlässt. Und somit vielleicht etwas, was wir in unserer Isolation unter Verschluss halten, in die Welt hinaus trägt. Es wäre plötzlich nicht mehr unser geheimnisvolles Königreich, wenn jemand anderes es durch seine/ihre Augen betrachtet hat und sich anschließend lieber für die Isolation oder sogar für ein anderes Königreich entscheidet, nicht wahr?
Manchmal kommt es auch vor, dass wir eine Nicht-Banane zu einer Banane konstruieren, weil es Dinge für uns einfacher macht. Mit gewissen Emotionen brauchen wir uns nicht weiter zu beschäftigen und mit der Ambivalenz des menschlichen Seins nicht weiter auseinander zu setzten.
So werden ganz einfach Nicht-Bananen zu Bananen.
Alain Badiou schreibt jedoch folgendes:
„Ich bin nun aber davon überzeugt, dass die Liebe als etwas, was jeder will, als etwas, das beinahe für jeden das ausmacht, was dem Leben Intensität und Bedeutung verleiht, unter den Bedingungen der gänzlichen Abwesenheit von Risiken nicht dieses Geschenk an das Dasein sein kann.“ (16)
Fluchen möchte man jetzt! Da haben wir eine Lösung gefunden unser Königreich zu verbergen, in der Vertrautheit unserer Isolation uns wohlzufühlen, Nicht-Bananen zu Bananen zu machen, um ja kein Risiko einzugehen, verletzt zu werden, um uns dann sagen zu lassen, dass wir mit den Risiken leben müssen? „Scheiß‘ auf die Liebe!“, will man da schreien.
Seien wir aber ehrlich: Wir führen diesen paradoxen Bananen/Nicht-Bananen-Tanz nicht auf, weil uns die Liebe am Arsch vorbei geht. Stimmt’s?
In „Lob der Liebe“ berichtet Badiou von einer Partnervermittlung, die Werbung mit einer schmerz- und risikofreien Liebe macht sowie ein Liebescoaching anbietet. Es sei „die Vollkaskoversicherung der Liebe“ (16). Wenn wir unseren Bananen/Nicht-Bananen-Tanz aufführen, dann ist es das was wir wollen: eine Vollkaskoversicherung. Nun ja, kurz und knapp: Die gibt es nicht!
Zudem birgt es einen anderen Aspekt, den Badiou wie folgt beschreibt:
„Wie alles, dessen Norm die Sicherheit ist, bedeutet die sicherheitsbesessene Liebe die Abwesenheit von Risiken für jenen, der eine gute Versicherung hat, (…) eine gute Psychologie des persönlichen Genusses, und das ganze Risiko für den, der ihm gegenübersteht.“ (17)
In Momenten, in denen wir also unseren Bananen/Nicht-Bananen-Tanz aufführen, geben wir das vollkommene Risiko an das Gegenüber ab. So sind es nicht nur wir, die existentielle Ängste davor haben, dass das eigene Königreich zusammen brechen könnte, wenn wir nur den/die Falsche/n hineinlassen, sondern auch der/diejenige, der/die uns in dem Moment gegenüber steht, hat ein Königreich zu verteidigen! Wie war das nochmal mit dem geteilten Leid? Geteiltes Leid ist halbes Leid? Ist vielleicht dann auch geteiltes Risiko, halbes Risiko?
Eines ist unbestreitbar – trotz aller geglückten Versuche von Bananen/Nicht-Bananen Tänzen:
„(D)ie Liebe findet letztlich in der Welt statt. Sie ist ein Ereignis, das nach den Gesetzten der Welt weder vorhersehbar noch berechenbar war. Auf diese Begegnung kann man sich nicht vorbereiten (…) denn letztlich, in dem Augenblick, in dem man sich sieht, sieht man sich.“ (Badiou, 34).
Und so kommt ab und an die verrückteste Sache mit Bananen vor: Es wird einem eine Banane (oder welches Lebensmittel auch immer du nicht magst – Rosinen, Ingwer, Tomaten, Austernpilze vielleicht?) untergejubelt. Plötzlich muss man feststellen, dass man Bananen mag. Die Bananen/Nicht-Bananen-Angelegenheit löst sich damit in Luft auf. Was dann bleibt ist schlussendlich nur eine Frage: „Wie konnte ich das so lange übersehen?“.